"In the absence of intimidation, creativity will flourish"
G.Ginn

Samstag, 30. Mai 2015

Attentäter und Kassettentäter

"Der eine hobelt Lattenbretter und heiratet nach Damaskus und wird Attentäter." (Josef Hader, So ist das Leben)

1. Durch Diskussion anderswo angeregt habe ich einmal wieder etwas dazu nachgelesen, wie das Reagan-Attentat 1981 die amerikanische Alternativmusik beeinflusst hat. Reagan wurde von John Hinckley Jr. (dessen Vater merkwürdigerweise ein Freund von George Bush gewesen sein soll) angeschossen. Hinckley war besessen von dem Film Taxi Driver und von Jodie Foster, die dort mitspielte, und hatte die Vorstellung, dass er durch eine wahnwitzige Tat die Aufmerksamkeit von Foster erringen könnte. So versuchte er ein Attentat auf Ronald Reagan, Reagan wurde angeschossen, sein Pressesprecher erlitt schwere Verletzungen,* genauso wie ein Sicherheitsbeamter. Hinckley wurde festgenommen, aber wegen Unzurechnungsfähigkeit nicht verurteilt, sondern in die Psychatrie eingewiesen (lockere Besuchsregelungen wurden Ende des letzten Jahrhunderts wieder aufgehoben, da man feststellte, dass Hinckley sie nutzte, um Material über Jodie Foster in die Klinik einzuschmuggeln. Da dieser Attentatversuch keine politischen, sondern popkulturelle Gründe hatte, ist es auch nicht verwunderlich, dass John Hinckley Jr. wiederum verschiedene Musiker beeinflusst (man scheut sich, inspiriert zu sagen) hat. Wenige Tage nach dem Attentat gründete sich die Skatepunkband Jodie Foster Army (irgendwann war es ihnen dann wohl auch zu blöd und sie nannten sich nur noch kurz JFA). Ich habe nie so richtig verstanden, was der stilistische Unterschied zwischen Skatepunk und normalem Punk/Hardcore ist, außer dass die Typen halt Skateboard fahren, aber das Cover einer der ersten Platten muss man als ikonisch für das Genre nennen:

Ich hatte in diesem Zusammenhang auch immer Wall of Voodoo mit "Far side of crazy" im Kopf, von dem ich immer dachte, es basiere auf einem Gedicht von John Hinckley Jr.. Der Song beschäftigt sich zwar mit der Thematik, aber basiert höchstens lose auf dem Brief, den Hinckley an Foster schreiben wollte. Nicht nur da lag ich falsch, ich hatte auch immer gedacht, da hätte Stan Ridgway gesungen, der war aber zu der Zeit schon lange nicht mehr Sänger, sondern Andy Prieboy, der auch den Text geschrieben hat (damit erklärt sich auch zwanglos, warum Ridgway sich zwischen 1983 und 1985 äußerlich so sehr verändert hat....). Schönes Lied, und schönes abgedrehtes Western-Video dazu.

Tatsächlich ein Gedicht von Hinckley vertont haben aber einmal DEVO, "I desire", das Lied kenne ich aber nicht. Die Band meinte im Nachhinein, es sei nicht der beste "career move" gewesen. Bei der Recherche bin ich auch darauf gestoßen, dass ein Lied von Capitol Punishment "Jodie is my bloody love" auf dem Attentat basiert, hätte ich auch selbst drauf kommen können. Dieses Lied hat ein früherer Gitarrist von uns immer gehört und ich habe es schon immer gehasst. Leider war das Lied eine Blaupause für etwa 1000 schleppende Hardcore-Songs, so dass man es wahrscheinlich schon gehört hat, auch wenn man es noch nie gehört hat.

Was soll man davon halten, dass sich Musiker an Wirrköpfen oder bösen Leuten orientieren? Aber Goethe hat auch lieber Faust geschrieben als Heiligenlegenden.

2. Zur Jodie Foster Army kam ich eigentlich nur, weil ich mich daran erinnert habe, dass es einmal eine Punkband in Deutschland gab, die Petra Kelly Army hieß (zu einem Zeitpunkt, als Kelly noch lebte). Hier zeigt sich ein Phänomen, das zumindest für Jüngere nicht so richtig nachvollziehbar ist: Während inzwischen praktisch alles, was es an Musik gab, irgendwo im Netz dokumentiert ist und man auch keine Probleme hat, umfassende Informationen über griechische Musik der Dreißiger Jahre online sofort zu finden, gibt es einiges aus der Zeit zwischen 1980- 1995, was in keiner Weise dokumentiert ist. Das hat auch damit zu tun, dass es Anfang der 80er keine vernünftige Infrastruktur für Underground-Musik gab. Die Kommunikation erfolgte durch Fanzines, die Musik war größtenteils nur auf Cassetten verfügbar. LPs konnten nur ganz wenige Gruppen machen. Es gab viele tolle Dinge, die so gut wie nicht mehr verfügbar sind. Die Petra Kelly Army ist im Netz zum Beispiel nur mittelbar über eine Auflistung eines Tapesamplers zu finden, der "Wir schlagen das Imperium" hieß (den hatte mein Bruder, glaube ich, auch einmal, es war zumindest auch eine Band aus unserer Heimatstadt drauf). Ich kann mich nicht erinnern, was für Musik die PKA gemacht hat, bei den Bands, die sich noch auf dem Sampler fanden, sind allerdings ein paar, die ich auch gerne mal wieder hören würde. Zum Beispiel die New born babies, die ein wunderbares Lied "Streifenwagen" hatten, das mir jetzt noch jedes Mal durch den Kopf geht, wenn ich einen Streifenwagen sehe (unvergleichlicher Refrain: Tatü tata tatü tata). Oder Rudolfs Rache, die einen kleinen Hit mit "Wir rasieren uns" hatten (auch heute noch eine wichtige Botschaft!) und deren Lied "Wenn das Bier verboten wird, dann gibt es nur noch Milch beim Wirt" auch noch besürzende Aktualität hat. Oder die Sportsgroup aus Frankfurt, die ein paar unglaubliche Tapes gemacht haben, an die sich aber inzwischen kaum jemand erinnert. Es gibt ein paar Seiten, auf denen die Tapes und Fanzines dokumentiert werden. Tape attack z.B. ist hier wirklich eine Fundgrube, als Neuling bräuchte man aber sicher eine kuratierte Version, da manches doch recht obskur ist. Auf meinem Dachboden steht noch ein Koffer mit alten Briefen, die ich damals mit allen möglichen Fanzinemachern und Kassettenlabel-Betreibern gewechselt habe, vielleicht sollte ich da mal wieder etwas stöbern. Die meisten Fanzines, die ich hatte, sind allerdings irgendwann verloren gegangen.


*Und da hier alles mit allem zusammenhängt,  basiert die erste Geschichte in dem Kurzgeschichtenband "Nixen auf dem Golfplatz" von Patricia Highsmith, der hier schon einmal vorgestellt wurde, auf der Geschichte des Pressesprechers.

Dienstag, 26. Mai 2015

Scheiße

Soeben lese ich, dass Fil morgen mit seinem Didi & Stulle-Comic in der Zitty aufhört. Den Comic über die zwei Schweine gab es seit 1997 alle zwei Wochen in dem Stadtmagazin, praktisch seit ich nach Berlin gezogen bin. Für mich waren Didi & Stulle auch immer ein Berlin Wegweiser, in dem die Sprache auch wunderbar aufgefangen wurde. Die Geschichten, die in Zwei-Wochen-Häppchen manchmal etwas sehr konfus, aber immer unglaublich komisch wirkten, waren dann später im Zusammenhang gelesen dramaturgisch bewundernswert (auch wenn andere meinen, dass er ansonsten zu viel über seinen Penis erzählt). Zeichnerisch ohnehin phantastisch. Einzelne Geschichten waren für mich immer wie der Soundtrack für die Stadt. Einzelne Fil-Sätze gehören zum ewigen Zitatenschatz der Familie. Und nu hört er auf.

Das macht mich traurig, aber ich bin sicher, dass Fil dann andere wunderbare Sachen machen wird. (Bitte, bitte!)

Montag, 25. Mai 2015

Happy Birthday Charlie!

Gerade lese ich, dass Charlie Harper, der Sänger der britischen Punkband UK Subs heute 71 Jahre alt wird. Er ist damit ein paar Tage älter als mein Vater. Das erste Mal habe ich die UK Subs wohl mit 11, 12 gehört, auf einer Cassette, die mir jemand aufgenommen hat, war ein Lied, leider nicht ganz, das ich total prima fand: Lady Esquire. Das soll mal das Geburtstagslied sein, auch wenn ich heute zum ersten Mal verstehe, dass es da um irgendwelche Drogen geht. Die Band hat noch viele tolle Lieder gemacht; die LPs hatten immer Titel, die das Alphabet runtergingen (vielleicht sind sie schon bei Z); A (Another Kind of Blues) -E (Endangered Species) sind uneingeschränkt zu empfehlen.

Die UK Subs sind immer noch unterwegs, schaut euch Charlie mal an.

Dienstag, 19. Mai 2015

52 Bücher: Ärger mit der Unsterblichkeit

1. Immer noch der Vorsatz, bei den 52 Büchern wieder aufzuholen. Aber die Wochen gehen so schnell vorbei, wenn man 40 Tomatenpflanzen gießen muss und drei Blogs bestücken. Das Motto dieser Woche ist "Es war einmal" und eigentlich dachte ich, dass ich da nichts beitragen kann, als mir plötzlich aufging, dass das Buch, das ich gerade lese, genau passt.

2. Andreas Dorau kennen praktisch alle als Sänger von "Fred vom Jupiter", ein Lied, das er als 15-Jähriger bei einem Schulprojekt aufgenommen hatte und das irgendwie zum Neuen Deutsche Welle Hit wurde. In "Ärger mit der Unsterblichkeit" hat er einige Geschichten aus seinem Leben erzählt, die Sven Regener aufgeschrieben hat. Ich habe das Buch quasi in einem Rutsch durchgelesen und am liebsten hätte ich die Hälfte davon gleich meiner Familie vorgelesen.

3. Dorau ist Künstler in der Tradition der Genialen Dilletanten und erzählt in dem Buch von seinen verschiedenen Projekten, Platten, Filmen, Opern und was er ansonsten noch so gemacht hat. Das Ganze sehr lakonisch. Ich weiß ja nicht, wie außergewöhnlich oder aufregend euer Leben bis jetzt so war, aber gegenüber Doraus Erzählungen kommt einem das eigene Leben extrem gewöhnlich und ereignislos vor. Dorau schafft es aber, selbst die seltsamsten Begebenheiten vollkommen normal klingen zu lassen: "Ich trieb ein paar Meter Filmmaterial auf und nahm mir vor, damit sparsam umzugehen. Deshalb verzichtete ich wieder auf Schauspieler und Handlung, außerdem auf Beleuchtung und Geräusche. Also alles fast wieder wie bei meinem ersten Film." Oder zu seiner Kurzoper: "Die Handlung sollte in Moritatenform von einem Hosenchor erzählt werden und ging so: Ein junges Mädchen, die schöne Lucy, Tochter eines Teppichs, verliebt sich in eine Hose, doch der Vater ist gegen diese Verbindung und am Ende sterben alle.... Als wir aber aus der Mittagpause zurückkamen, teilte Eckhart Schmidt uns mit, dass die Kameraleute, größtenteils ältere Damen, die sich bis dahin nicht weiter bemerkbar gemacht hatten, die Arbeit niedergelegt hätten, weil sie "so einen Scheiß" nicht mitmachen wollten." (In jeder Rezension des Buches, die ich bislang gelesen habe, wird ausgiebig zitiert, weil fast jeder Satz unglaublich ist. Die Geschichten von der dreifachen Anzeige wegen der Kinderoper, der Entsorgung des Rammstein-Rammsteins oder wie ihm sein erster Dackel in den Hoden biss, müsst ihr aber selbst lesen.)

4. Man lernt nebenbei noch einiges über das Musikgeschäft, es kommen einige mehr oder weniger bekannte Leute vor, darunter wohl auch ein Berliner Kultursenator, der aus gutem Grund nicht mit Namen genannt wird. Ich habs`s, wie gesagt, an einem Stück gelesen. Am nächsten Tag stöberte ich in meinen Platten und zog seit langem mal wieder die Fehlfarben heraus, im Nachhinein wurde mir klar, dass da auch Frank Fenstermacher mitspielte, der im Buch auch häufiger vorkommt.

Freitag, 15. Mai 2015

Misheard Lyrics

Diesen Hinweis verdanke ich meinen Nichten. Es gibt auf Youtube Frau Coldmirror, die fremde Songtexte illustriert. Und zwar so, dass sie das aufzeichnet, was man verstehen könnte, wenn es sich um ein deutsches Lied handelte. Der psychologische Trick dabei ist, dass Schrift und Bild ganz kurze Zeit vor dem gesungenen Wort erscheint, so dass das Hirn bereit ist, tatsächlich zu glauben, dass gerade "Kritzel Riesenpriester" oder "Ist der mit Ohrsand?" gesungen wird.  Die Sternstunden sind da natürlich bei irgendwelchen exotischen Sprachen, das türkische Lied "Keks, alter Keks" sollte man sich auf jeden Fall anhören, aber auch englisch-sprachiger Heavy Metal* kann dabei überraschend angenehm erscheinen. Sehr, sehr lustig. J.J. hat mir erzählt, dass Coldmirror inzwischen diese Videos nicht mehr macht, aber für Leute wie mich, die alles erst drei Jahre zu spät mitbekommen, gibt es ja Youtube zum Nachgucken. Bühne frei für Coldmirror!

*Wer hier ab und zu mitliest hat ja eine Vorstellung, wie groß meine Abneigung gegen Heavy Metal ansonsten ist. Aber: "Du machst den Kakao" ist in Ordnung.

Montag, 11. Mai 2015

Dangers of Rock'n'Roll

Letzthin bin ich im Internet zufällig auf die Geschichte von Louie, Louie, den Kingsmen und dem FBI gestoßen. Ich habe dann zwar herausgefunden, dass die Geschichte wohl schon länger bekannt ist, aber was soll's. Aber der Reihe nach:

1. l963 nahm eine Musikgruppe namens The Kingsmen ein Stück auf, das es schon seit einigen Jahren gab. Louie, Louie war die Geschichte eines Seemanns, der in einer Bar davon erzählt, wie er zu seinem Mädel zurück will. Die Originalversion hatte karibische Wurzeln, die Kingsmen saßen aber in der Nähe von Seattle und hatten Mühe, das Stück zu spielen. Die Aufnahme kostete 50 Dollar, alle waren zusammen in einem Raum und der Sänger versuchte, über den Krach hinweg in das Mikro, das von der Decke hing, zu singen (hier kann man eine Darstellung des Sängers über die Aufnahme hören). Die Körperhaltung führte dazu, dass die Phrasierung und die Aussprache ohnehin anders klang als in normaler Haltung, howling at the moon, quasi. Louie, Louie war eines dieser 60er Jahre Proto-Punk-Stücke, ziemlich roh, aber mit einem Anfangsriff, das man nicht mehr aus dem Kopf bekam. Die Version der Kingsmen wurde ziemlich bekannt und beliebt und kam sogar in die Hitparaden. Da ging der Ärger los.

Beim FBI kamen zahlreiche Beschwerden an, dass es sich um ein obszönes und damit verbotenes Lied handelte. Väter beschwerten sich, sie hätten diese sicherlich pornografische Single bei ihren Kindern gefunden, hier müsse das FBI einschreiten. Die FBI-Akte kann man inzwischen im Internet nachlesen, ein Dokument, das zum einen zeigt, wie sich die Welt in den letzten 50 Jahren verändert hat, zum andern aber auch eine ziemlich lustige Lektüre. Das FBI war durchaus willig zu ermitteln, aber: sie verstanden den Text nicht. Konnten ihn auch nicht verstehen, weil weite Passagen aufgrund der schlechten Aufnahme komplett undeutlich waren. Es kursierten verschiedene Textblätter, ein harmloses Original-Textblatt und dann verschiedene scharfe Versionen, entweder von Teenagern erstellt oder von Vätern, die versuchten den Text zu fassen. Das FBI gab die Single ins Labor, ließ sie  auf allen Geschwindigkeiten von 16, 33, 45, 78 abspielen, aber es half nichts: Der Text war nicht zu verstehen. Nach zwei Jahren gab das FBI dann auf.

2. Muss man sich das Lied wie einen Rorschachtest vorstellen, einem Psychotest, bei dem den Probanden Tintenklecksbilder vorgelegt werden, und dann gefragt wird, was sie sehen? Die Versuche zeigen, dass bei der Erläuterung eigentlich unverständlicher Bilder Bewußtseinsinhalte freigelegt werden, die ansonsten verborgen blieben. Hörten alle, insbesondere auch die Eltern, Schweinereien in  dem Genuschel von Jack Ely, dem Sänger, weil sie Anfang der Sechziger in einer sexualisierten, aber unterdrückten Gesellschaft lebten? FBI-Chef Hoover war gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt, als er meinte, es sei egal, ob der Originaltext unbedenklich sei. Die Teenager würden den bedenklichen Text trotzdem hören. Wahrscheinlich muss man hier tatsächlich gar nicht besonders psychologisieren; 15-17 Jährige haben wohl zu jeder Zeit irgendwelche obszönen Versionen von populären Liedern fabriziert, unabhängig davon, ob das Original verständlich war oder nicht.

3. Wahrscheinlich ist es doch komplizierter. So harmlos das Liedchen auch war, die Väter und das FBI waren sicher zu Recht besorgt. Weil auch unabhängig vom fassbaren Inhalt, war dieses Lied bedrohlich. Diese Low budget-Produktion, die rohe Darbietung zeigen demonstrativ, dass den Kingsmen die Mainstreamästhetik ziemlich wurscht war. Das Lied zeigt komplettes Desinteresse daran, den gängigen Vorstellungen von schöner Musik zu entsprechen, und Amerikas Jugend verstand die Botschaft wohl. Das war insgesamt gefährlicher als ein möglicher obszöner Text, aber nichts, gegen das das FBI etwas machen hätte können...

Jack Ely, über dessen gesungene Zeilen FBI-Agenten gerätstelt haben, ist vor einigen Wochen im Alter von 71 Jahren gestorben.

Samstag, 9. Mai 2015

Pirate Satellite Festival

Mal wieder ein Konzert in Berlin. Das Pirate Satellite Festival, ein Haufen Bands an einem Abend. Die meisten kenne ich nicht, aber da spielen auch die Smith Street Band, die mir Torsten von der Bördebehörde immer ans Herz gelegt hat, und Samiam, von denen ich vor Jahrzehnten mal eine LP hatte, die ich sehr gerne gehört habe.

Das Ganze soll um 18.30 Uhr beginnen, ich muss vorher noch J.S. abholen und nach Hause bringen, und mit Bahnstreik dauert die Fahrt von Pankow nach Kreuzberg auch ein bisschen länger. Als ich dann um 20.30 ankomme, muss ich feststellen, dass die Smith Street Band schon von 19.30 Uhr bis 20 Uhr gespielt haben und dass Samiam als letzte kurz vor 24 Uhr spielen werden.

Fucketyfucketyfuck, wie der Schwede zu sagen pflegt.

Die Auftritte sind abwechselnd im C-Club und im Crystal Club, so dass die Bands praktisch nonstop spielen können; während auf der einen Bühne gespielt wird, macht man auf der anderen den Soundcheck. Im Crystal Club stehen Typen mit farbigen Skimasken auf der Bühne, nein, nicht Pussy Riot, sondern Masked Intruder. Ich kannte die Band vorher noch nicht, man muss aber sagen, dass es schon eine relativ bescheuerte Idee ist, sich in der Bühnenhitze mit Skimasken hinzustellen. Am Rande der Bühne sass dann noch ein korpulenter Typ, der keine Skimaske aufhatte, sondern Mütze und Schnauzbart. Mir wurde dann erst beim ersten Lied klar, dass das ein Polizist sein soll, der praktisch die ganzen maskierten Verbrecher jagen soll. Der Officer dirigierte dann bei ein paar Liedern das Publikum, später saß er dann in knappen Radlerhosen am Merchandise-Stand rum. Süß! Komplettes Kasperletheater (fand ich natürlich gut). Masked Intruder bollerten live ziemlich rum, die Lieder könnten allerdings alles Outtakes vom zweiten Descendents-Album sein; eine Mischung aus Ramones und Beach Boys, mit schönen Gesangsarrangements. Hat mich wirklich begeistert, obwohl (nein: natürlich weil) die ganze Band so herrlich bescheuert war. Eine kleine Kostprobe der Musik und des Humors der Band kann man hier sehen:

Danach auf der großen Bühne Teenage Bottlerocket. Kannte ich auch vorher nicht, technisch sauberer Green Blink FX-Punk, mit allen zugehörigen Rockerposen. Fehlt mir ein bisschen der Zugang dazu, ist mir auch etwas zu langweilig. Irgendwann erklärte allerdings der Sänger, dass er mal ein Jahr deutsch gelernt habe und spielte ein deutsches Lied, mit folgendem Text: "Ich bin Ausländer und spreche nicht gut deutsch, bitte sprechen Sie langsam, sprechen Sie langsam." Da musste ich doch lachen. Dann fragte der Sänger, wer denn im Publikum Minecraft spiele und war enttäuscht, dass sich nur ein, zwei meldeten (mein Zwischenruf "my sons" ging wohl unter). Er schob es darauf, dass das Spiel in Deutschland nicht beliebt sei, ich würde es eher dem Verwitterungsgrad des Publikums zuschreiben

Auf der anderen Bühne dann Lower than Atlantis, hörte sich nicht schlecht an, aber nicht mein Ding. Ich könnte noch nicht mal sagen, wie man die Musik beschreiben sollte.

Ich setzte mich vor die große Bühne und sah Samian beim Aufbauen zu. Die Band war Mitte der 90er recht groß, gilt wohl als Pionier der Emo-Szene. Ich kenne, wie gesagt, nur eine frühe LP, die ich aber gerne mag. Der Sänger kam zum Mikro-Check, ein wohlbeleibter, unrasierter Basecap-Träger, der eine blaue Latzhose trug. Sah aus wie aus der Stihl-Motorsägen-Werbung (leider hat keiner von den zahlreichen Schlümpfen, die das Konzert auf dem Handy aufgenommen haben, bislang etwas bei Youtube eingestellt, den Anblick kann man nicht beschreiben). Da wußte ich, dass es ein gutes Konzert werden würde.

 (In dem Video hat der Sänger noch Haare und trägt Anzug. Ich finde er hat sich in den letzten 20 Jahren verbessert.)

Samian spielten eine gute Stunde, ich kannte kein einziges Lied, sehr kraftvoll, treibend und abwechslungsreich. Man merkte, dass die Band schon lange zusammenspielt und Spaß an der Sache hat. Der Sänger hat eine relativ hohe Tonlage für Punk, interessanterweise fand ich ihn jetzt in etwas gesetzteren Alter sogar besser als auf den frühen Aufnahmen; normalerweise lässt hier ja das Vermögen eher etwas nach. Vor der Bühne eine große Meute von Leuten, die jedes Lied mitsingen konnten. Muss mir mal ein paar Sachen von Samiam besorgen.

Um halb 1 war's dann zu Ende, im Taxi nach Hause konnte ich die Ehrfurcht des Taxifahrers erringen, da ich, nachdem er das Radio anmachte und zwei Töne erklangen, den Sänger als Robert Johnson identifizieren konnte. Wir hörten zunächst den "Me and the Devil Blues" und dann, dass Johnson vor 113 Jahren geboren wurde. Guter Tag für die Populärmusik also.

Freitag, 1. Mai 2015

52 Bücher: Gryphius und Gottfredson

(Alleine für die Überschrift müsste ich Prügel bekommen, aber ich kann nichts dafür: das Fellmonsterchen ist schuld.)

1. Wieder der Versuch, beim Buchprojekt Rückstände aufzuarbeiten. Diesmal war das größte und das kleinste Buch im Regal gefragt. Solche Themen haben ja den Vorteil, dass man nicht zu viel nachdenken muss (außer eines der Bücher, das eigentlich vorgestellt werden müsste, ist so peinlich, dass man sich schnell ein anderes erfinden muss), andererseits werden dann auch Dinge zusammengebracht, die nun gar nicht zusammen gehören, oder bei denen selbst meine manchmal etwas zu ausufernde assoziative Phantasie nix Gemeinsames findet. Nun gut.

2. Sowohl das größte als auch das kleinste Buch bei mir im Regal liegen mir sehr am Herzen, insoweit fällt der Blogpost leicht. Kleinstes Buch ist bei mir ein Reclam-Heft, eigentlich gibt es somit einige gleich kleine Bücher im Regal, aber ich habe Goethe und Wedekind mal zur Seite geschoben und dafür Andreas Gryphius genommen. Der Band heißt "Gedichte", es ist eine Auswahl von Gedichten des Barocklyrikers, der 1616 geboren und 1664 gestorben ist. Die Gedichte sind zumeist religiöse Oden zu den verschiedenen Feiertagen, ich müsste sehr lügen, wenn ich sagte, dass ich diese verstünde oder sie mich interessierten. Es sind aber ein paar Gedichte dabei, die mich seit Jahrzehnten begleiten, eigentlich so gut wie die einzigen Dinge, die ich im Deutschunterricht gelesen habe und die ich auch danach noch gut fand (meine Deutschlehrer waren Gott sei Dank so weise oder von so schlechtem Geschmack, dass mir in der Schule die wirklich schönen Texte kaum begegnet sind). "Abend", ein Sonett, ist eines der schönsten Gedichte, die ich kenne. Die erste Strophe lautet:
"Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn/ und führt die Sternen auf. Der Menschen müden Scharen/ Verlassen Feld und Werk, wo Tier und Vögel waren,/ trauert jetzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!" (Der Dreißigjährige Krieg war halt nicht die Zeit, um fröhliche Gedichte zu machen).  Die Empfindung des Gedichts ist allerdings auch jedem modernen Angestellten vertraut. Zumindest das letzte Mal, als ich nachgesehen habe, gab es außer dieser Reclam-Ausgabe keine andere, vernünftigere; so ist die Ausgabe mit 10 x 15 cm mein kleinstes Buch im Regal.

3. Das größte Buch ist dann von ganz anderen Dimensionen: 36 x 27 cm. Es handelt sich auch wieder um mehrere Bücher mit den gleichen Dimensionen: Die französische Ausgabe der klassischen Micky Maus-Zeitungscomics von 1936 bis 1954 (L'age d'or de Mickey Mouse). Ich habe ja bereits an anderer Stelle schon darüber geschrieben, dass ich die Zeitungscomics von Floyd Gottfredson aus den 30ern sehr schätze; die L'age d'or-Ausgabe ist wohl die einzige, in der man auch noch Comicstrips der späten 40er und frühen 50er nachlesen kann (die amerikanische Ausgabe hängt da noch etwas hinterher). Gottfredson hat zwar bis in die 60er weitergezeichnet, allerdings keine langen Geschichten mehr, sondern nur unverbundene Tages-Gags. In den Geschichten merkt man, wie abhängig die Genres auch von den jeweils vorherrschenden Filmtrends waren; während in den 30ern Abenteuer- und Detektivgeschichten vorherrschten, finden sich in den 50ern zahlreiche Science Fiction-Plots. Der chaotische Freundeskreis von Micky, der anfangs noch sehr bestimmend war, löst sich über die Jahre auf. Micky wird ein Vorstadt-Jedermann, sein Neffe, Minnie oder Goofy tauchen nur auf, wenn es für die Geschichte notwendig ist, verschwinden aber auch schnell wieder. Ein paar Jahre war Micky mit Gamma, dem Mann aus der Zukunft, unterwegs; der verschwand dann allerdings irgendwann aus den Zeitungsstrips und Goofy durfte wieder begleiten; durch die Zeit, durch den Weltraum etc. Die Geschichten sind immer noch wunderbar gezeichnet, allerdings gab es offenbar irgendwann Ende der 40er die Vorgabe, dass die täglichen Strips nur mehr drei und nicht mehr die bisher üblichen vier Bilder haben sollten; dadurch wird der Ablauf etwas statischer. Micky rettet fremde Galaxien, das Feenland, ist im alten Rom, wird von U-Boot-Piraten entführt, trifft Geisterpiraten, muss in Afrika das Gegengift für einen Fluch finden, kämpft gegen einen geheimnisvollen kriminellen Doppelgänger, die Geschichten blieben fantastisch und kurzweilig.Zwischendurch wurde Goofy Filmstar oder Wissenschaftsgenie... Bei manchen Geschichten hat man allerdings den Eindruck, dass den Autoren nach ein paar Wochen der Ausgangspunkt etwas aus den Augen geriet; nicht nur einmal endet eine Geschichte, ohne dass tatsächlich alles aufgelöst worden wäre.

4. Trotzdem sind die Bände eine Schatzgrube, weil das Comicmaterial in Deutschland, anders als die frühen Geschichten, so gut wie nicht bekannt ist. Da gibt es einige Neuentdeckungen und die Bände sind von der Qualität exquisit. Leider halt französisch, für mich eine eher anstrengende Lektüre. Da ich aber nicht sicher bin, ob ich die amerikanische Ausgabe des späten Gottfredson noch erlebe, habe ich schon mal zugegriffen....